Die Faszination und Schönheit des goldenen Schnitts
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Leicht redigierter Auszug aus einem Essey von Dr. Dr. Ruben Stelzner:
Es stellt sich die Frage, warum das Vorkommen des goldenen Schnittes immer wieder mit der Schönheit in Verbindung gebracht wurde und immer noch wird. Das Prinzip der Gleichheit und Einheit spielt dabei die Schlüsselrolle. Im goldenen Schnitt entsteht das Bild der Vollkommenheit nun jedoch nicht mehr durch die Gleichheit der Teile, sondern durch die Gleichheit der Proportionen. Die Verhältnisse der Teile Minor zur Major und Major zum Ganzen sind immer gleich.
Die Einheit der Proportionen vermittelt das Bild der Vollkommenheit und lässt uns die Asymmetrie der Teile als harmonisch empfinden. Offensichtlich hängt das mit einer Symmetrie zusammen, die die Asymmetrie integriert: Die Symmetrie findet sich innerhalb das goldenen Schnittes nicht mehr in einer förmlichen Umsetzung (Gleichheit der Teile), sondern in einer verhältnismäßigen. Die Proportionen der einzelnen Elemente sind gleich. Im goldenen Schnitt ist das Verhältnis symmetrisch. Es ist die Symmetrie der Teile zu Gunsten der Symmetrie der Proportionen untergegangen.
Das Prinzip der Symmetrie und der Asymmetrie beim goldenen Schnitt
Beeindruckenderweise taucht jedoch auch im goldenen Schnitt bei aufmerksamer Betrachtung die Symmetrie der Teile doch wieder auf. Dies wird optisch leichter nachvollziehbar, wenn man die drei Größen Minor, Major und das Ganze nebeneinander stellt (Abb. 6). Auf diese Weise findet sich auch in der Geometrie des goldenen Schnittes eine Symmetrieachse wieder. Ein weiteres Paradoxon tut sich auf: Im scheinbar absolut asymmetrischen Verhältnis der Proportio divina verbirgt sich gleich zweimal die Symmetrie, zum einen in der Gleichheit der Proportionen (Minor : Major) und zum anderen in der Gleichheit der Teile (Symmetrie), wie sie in Abbildung 6 zum Ausdruck kommt.
Der goldene Schnitt verbindet so auf eindrückliche Weise das Prinzip der Symmetrie mit dem der Asymmetrie. Diesen »verbindenden« Eigenschaft der auch als »göttliche Proportion« bezeichneten Gesetzmäßigkeit werden wir in den folgenden Beispielen immer wieder erfahren. So wird offensichtlich, dass der goldene Schnitt wegen seines »die Gegensätze verbindenden Charakters« als schön und harmonisch empfunden wird.
Rechnet man nun mathematisch aus, in welchem Verhältnis Minor zu Major und dieser zum Ganzen stehen, so ergibt sich folgende Zahl, die als Konstante Phi bezeichnet wird:
Φ = 1,618033988749894848204586834365638117720309179805762862135...
Sie besagt, dass beispielsweise der Major 1,61...fach größer ist als der Minor, und wiederum dass das Ganze 1,61..mal größer ist als der Major. Diese nach dem Komma endlose Zahl gehört zur Gruppe der irrationalen Zahlen. Gerade ein solches irrationales Zahlenverhältnis wird als besonders harmonisch und schön empfunden. Ein scheinbar weiterer Widerspruch, denn ist nicht in aller Regel gerade das Irrationale das, was den Menschen beunruhigt und was er mit Hilfe seiner Rationalität zu beseitigen versucht?
Der Parthenon zu Athen
Seit Menschengedenken finden wir die goldene Proportion überall dort, wo Menschen Schönheit zum Ausdruck bringen wollten und wo sie sich dem göttlichen Ideal anzunähern versuchten. Dies sind im Allgemeinen die Kunst und im Besonderen ihre heiligen Stätten, die Tempel.
Der Parthenon zu Athen zählt zu einem der bekanntesten klassischen Bauten. Er gilt gleichzeitig als das schönste und vollendetste Werk der antiken griechischen Architektur. Dieser berühmte Tempel, der als Krönung für die gesamte Akropolis steht, wurde rund 450 v. Chr. unter Perikles errichtet. Er gilt bis heute als ein Paradebeispiel klassischer symmetrischer Baukunst.
Die exakt symmetrische Anordnung der einzelnen Elemente findet sich bis in kleine Details, aus allen Perspektiven, wieder. Neben der Symmetrie sind aber auch die Proportionen des goldenen Schnittes in vielfacher Art und Weise und erstaunlicher Genauigkeit verbaut. Die stilisierten Grafiken (Abb. 7 und 8) sollen dies nur beispielhaft erläutern.
Abbildung 7 zeigt in einer vertikalen Unterteilung das Verhältnis zwischen Unter- und Überbau des Tempels. Der Überbau reicht vom Giebel bis zu den tragenden Säulen, zum Unterbau gehört der tragende Teil, also die Säulen und Stufen. Beide Teile des Bauwerks stehen in beeindruckend exakter Art und Weise im Verhältnis des goldenen Schnittes.
In Abbildung 8 wird die Höhe (Grundlinie der Treppe bis zur Spitze des Giebels) zur Breite (Breite des Aufbaus) des Bauwerks ins Verhältnis gesetzt. Höhe und Breite verhalten sich ebenso wie Minor zu Major. Eine solche flächenhafte Ausdrucksweise des goldenen Schnittes wird auch als goldenes Rechteck bezeichnet.
Neben der Umsetzung des goldenen Schnittes finden sich jedoch auch noch zahlreiche andere asymmetrische Details im Parthenon. An vielen Stilelementen des Bauwerks sind bewusst Symmetriebrüche eingebaut. So stehen beispielsweise die Säulen nicht gerade, sondern sind leicht nach innen gebogen. Auch stehen sie bei genauer Vermessung keineswegs an den einer Symmetrie entsprechenden Punkten. Von diesen weichen sie vielmehr deutlich ab, was dem profanen Auge allerdings unsichtbar bleibt.
All diese Details zeigen schließlich, dass der Parthenon eine Symbiose von Symmetrie und Asymmetrie ist. Ähnlich wie im goldenen Schnitt an sich Symmetrie und Asymmetrie in Verbindung stehen, so kommen auch in jeder materiellen Umsetzung des Prinzips diese Qualitäten des Ausgewogenen wieder zum Vorschein.
Der Parthenon ist nur ein Beispiel unter vielen für die Anwendung des goldenen Schnittes in berühmten und großen sakralen Bauten. Die Umsetzung menschlichen Schönheitsempfindens in Form des goldenen Schnittes findet sich in zahlreichen anderen bekannten Bauwerken, wie der alten Petersbasilika in Rom oder dem Kölner Dom wieder (Moessel 1926). Selbst in den Pyramiden von Gizeh zeigen sich die Proportionen der Zahl Phi in erstaunlicher Genauigkeit (Hagenmaier 1988). So ist beispielsweise der Neigungswinkel der Cheops-Pyramide a = 51°50’ bis a = 51°52’. Der Kosinus dieses Winkels beträgt 0,618. Auf die gleiche Größe stößt man beim Verhältnis der Länge der Pyramidenseite zur Hälfte der Pyramidenbasis (356 : 220 Ellen). Auch im berühmtesten der großen Steinmonumente, Stonehenge, das vor ca. 3500 Jahren bei Salisbury in England erbaut wurde, finden sich die goldenen Maße wieder (Doczi 1996). In der Kunst zeigen sich die Proportionen des goldenen Schnittes im Grundaufbau zahlreicher bekannter Gemälde (Doczi 1996), wie »Das Abendmahl« von Leonardo da Vinci, Albrecht Dürers »Selbstbildnis« oder Raffaels »Die Sixtinische Madonna«.
Die goldenen Proportionen sind jedoch nicht nur Produkt eines bewusst menschlichen Schaffens, wie die zahlreichen oben erwähnten Beispiele vermuten lassen. Sie scheinen ursprünglicherer Natur zu sein.
Quelle:
Diese Betrachtungen sind ein Auszug aus einem Essey von Dr. Dr. Ruben Stelzner